Humboldt-Universität zu Berlin - Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftliche Fakultät - Institut für Asien- und Afrikawissenschaften

Telegrafie und Öffentlichkeit in Britisch-Indien, c. 1880-1930

Prof. Michael Mann

Die Geschichte des Telegrafen und der Telegrafie erscheint bis in die Gegenwart hinein als eine der westlichen Welt, genauer: eine transatlantische Erfolgsgeschichte. Sie dient als einer unter vielen Belegen für die technologische und damit insgesamt zivilisatorische Überlegenheit des „Westens“ gegenüber dem auf diese Art konstruierten statischen „Osten“.  Einmal mehr – zusätzlich zur Eisenbahn und Dampfschifffahrt – manifestiert sich so die westliche „Moderne“ an Wissenschaft und Technik.


Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff und dem Konzept der Öffentlichkeit. Sie scheint, zumindest nach Jürgen Habermas, in dieser Form alleine im westlichen Europa ab der Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden zu sein. Dem sich ausbildenden (National-) Staat kritisch gegenüberstehend, war sie die Keimzelle dessen, was heute als Zivilgesellschaft bezeichnet wird. Inzwischen ist dieser Sonderweg Europas in Bezug auf Öffentlichkeit(en) hinterfragt worden, denn auch in anderen Regionen der Welt existierten bzw. haben sich Formen von Öffentlichkeiten herausgebildet.


Erstaunlicher Weise ist der Zusammenhang zwischen diesen und der Telegrafie in der bisherigen Forschung generell unberücksichtigt geblieben. Das gilt auch für den Transformationsprozess im Bereich des Pressewesens. Das Projekt beabsichtigt, diese Forschungslücke, wie sie für Britisch-Indien weithin klafft, zumindest hier zu schließen. So soll gezeigt werden, dass in Britisch-Indien verschiedene Öffentlichkeiten im Verlauf des 19. Jahrhunderts entstanden, bis schließlich ab den 1880er Jahren eine „all-India public sphere“ aufkam. Dazu trug in erheblichem Maße die Telegrafie bei, denn sie beeinflusste nachhaltig Journalismus, Berichterstattung und Aufmachung von Tages- und Wochenzeitungen und räumte „nationalen“ Themen einen immer breiteren und prominenteren Platz ein.


Das Telegrafennetzwerk wurde in Britisch-Indien seit den 1850er Jahren systematisch ausgebaut. In vielerlei Hinsicht war es komplementär zum fast gleichzeitig angelegten Eisenbahnnetz. Beide wurden unter primär sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Prämissen aufgebaut. An eine medienorientierte Nutzung war überhaupt nicht gedacht. Doch binnen Kurzem bedienten sich die indischen Printmedien dem neuen technischen Medium sowie den gleichzeitig aufkommenden Nachrichtenagenturen, allen voran Reuters, und leiteten so eine Revolution der Medienlandschaft in ein. Fehlende Copyright-Bestimmungen führten dazu, dass Zeitungen, deren Eigentümer Inder waren, sich der telegrafisch aus aller Welt übermittelten Nachrichten bedienten, indem sie sie nach der Erstpublikation schlicht im eigenen Blatt übernahmen.


Der marathische, bengalische, oriya, sindhi und tamilische Nationalismus erfuhr durch den Telegrafen und die revolutionierte Presseberichterstattung einen ungeahnten Aufschwung. Sie alle sind Bestandteile der vielfältigen „indischen“ Öffentlichkeiten,  die die politische Szene Britisch-Indiens dominierten. Sie belegen auch, dass es bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, in manchen „Regionen“ Britisch-Indiens bis in das 20. Jahrhundert hinein, separate Nationalbewegungen gab und die Vorstellung eines gesamtindischen Staates eine kolonial-britische war.

 

Erst als Eisenbahn und Telegrafie zu logistischen Kernstücken der jährlich ab 1885 in einer anderen Stadt Britisch-Indiens tagenden Jahresversammlung des Indian National Congress wurden, widmete sich die Presse- und Medienlandschaft  zunehmend mit gesamtindisch „nationalen“ Themen. So war es unter anderem die Berichterstattung über die Jahresversammlungen in der indischen Tages- und Wochenpresse, die auf telegrafischer und damit der unmittelbaren Übermittlung von Debatten und  Beschlüssen beruhte, die den wachsenden „nationalen“ Themen einen herausgehobenen Stellenwert verschuf.


Diese vielschichtigen und medienhistorisch komplexen Prozesse trugen wesentlich zur Ausbildung einer schließlich kritischen gesamtindischen wie auch vielfältiger indischer Öffentlichkeit/en in Britisch-Indien bei. Sie zeigen, wie mit Hilfe neuer Technologien auch in einem kolonialen Kontext durch kreative Handhabung seitens der lokalen Bevölkerung medien- und gesellschaftspolitische Dynamiken entstanden. Aus dem als koloniales Herrschaftsinstrument gedachten Telegrafen wurde, pointiert formuliert, binnen eines halben Jahrhunderts ein Instrument des organisierten Widerstandes in Form einer „all-India public sphere“.