Humboldt-Universität zu Berlin - Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftliche Fakultät - Institut für Asien- und Afrikawissenschaften

Rede

Jürgen Berndt zur Einrichtung
des Gedenkzimmers am 11. 10. 1984

Woran eigentlich mißt man die Größe eines Menschen, eines Schriftstellers, eines Geistesschaffenden?

Zweifellos doch daran, wieweit er sich den Forderungen des Tages stellt, in welchem Maße er das geistige Milieu seiner Zeit mitbestimmt und was er an Neuem einbringt. Hat Mori Ôgai sich diesen Forderungen gestellt? Hat er das geistige Milieu seiner Zeit mitbestimmt? Hat er Neues eingebracht? Jede dieser Fragen wäre mit einem eindeutigen "Ja" zu beantworten.

Über die Größe einer Persönlichkeit aber wird letztlich wohl immer erst die nahe oder ferne Nachwelt entscheiden. Die Nachwelt entscheidet, ob sie das von dieser Persönlichkeit Geschaffene als Erbe annimmt - als ein unentbehrliches Erbe, das es nicht nur zu verwalten gilt, sondern auf dem Neues aufzubauen ist.

Zu fragen wäre nun, hat die Nachwelt das, was Mori Ôgai schuf, als lebendiges Erbe angenommen, bedarf sie dieses Erbes? Ist Mori Ôgai, eine Gestalt, die bis in unsere Gegenwart hineinragt? Oder hat sie lediglich historische Bedeutung? Ist sie ein bloßes geistiges Denkmal, dem aus Gründen der Pietät Verehrung gezollt wird? Nein, die Gestalt Mori Ôgais reicht bis in die Gegenwart hinein und nimmt dabei gerade in letzter Zeit immer deutlichere Konturen an, und zwar zunehmend auch über die Grenzen Japans hinaus. Vielleicht kann man davon sprechen, daß in Japan eine Mori-Ôgai-Renaissance eingesetzt hat, und festzustellen ist, daß ein internationales Bemühen begonnen hat, sich Mori Ôgai zu erschließen. Kürzlich erschienene Arbeiten in der UdSSR, in Großbritannien und den USA beweisen es.

Nüchtern ist aber auch festzustellen, daß Mori Ôgai in Japan unserer Tage nicht gerade viel gelesen wird und daß er dem heutigen Sinn nach vielleicht auch niemals ein populärer Schriftsteller gewesen ist. Es bedarf einiger Anstrengungen, sich ihm und der Welt seiner literarischen Werke zu nähern und mit seinem Schaffen vertraut zu werden. Trotzdem, bäte man einen Japaner, der mit der Literatur seines Heimatlandes einigermaßen vertraut ist, auf der Stelle ein halbes Dutzend oder vielleicht nur drei oder vier der wichtigsten Schriftsteller des modernen Japan zu nennen, der Name Mori Ôgai wäre wohl immer dabei.

Popularität oder Vielgelesenheit kann ohnehin nicht das allein ausschlaggebende Kriterium für die Bedeutung eines Schriftstellers sein; die Literaturgeschichte aller Völker hält viele Beispiele dafür bereit. Für Mori Ôgai kommt hinzu, daß sich die Größe seiner Persönlichkeit nicht nur aus dem eigenen dichterischen Schaffen ableiten läßt. Seine Bedeutung reicht weit darüber hinaus, reicht über die Literatur als solche überhaupt hinaus.

Mit der vagen Hoffnung auf Ruhm und Erfolg habe er, wie er später sinngemäß in seinem Erstlingswerk gesteht, 1884 seinen Studienaufenthalt im damaligen Deutschland angetreten. Doch vielleicht war diese Hoffnung gar nicht so vage. Denn liest man sein "Deutsches Tagebuch", das er seit seiner Ankunft in Berlin mit großer Genauigkeit führte, allerdings nur mit knappen, nicht gerade literarisch anmutenden Worten, verfolgt und analysiert man sein Auftreten während seines vierjärigen Aufenthaltes hier im Herzen Europas, dann spricht daraus oft ein geradezu erstaunliches Selbstbewußtsein, für einen jungen Menschen in der ersten Hälfte seiner zwanziger Jahre.

Er war sich bewußt, daß ihm nach seiner Rückkehr eine Führungsposition zugedacht war. Und tatsächlich machte er dann auch eine glänzende Karriere, zumindest eine äußerlich glänzende Karriere: Von Beruf war er Arzt und gehörte der japanischen Armee an, als zweiundzwanzigjäriger Leutnant traf er 1884 in Berlin ein, als Hauptmann verließ er es 1888. Im Jahre 1907 wurde er zum Generaloberstabsarzt befördert und war damit der ranghöchste Militärarzt des japanischen Heeres. Als er 1916 seinen Abschied vom Militär nahm, wurde er bald darauf Direktor des Kaiserlichen Hofmuseums und auch Präsident der Reichsakademie der Künste, war er bis zu seinem Tode am 9. Juli 1922 blieb.

So gesehen, hat Mori Ôgai im Unterschied zu den meisten, wenn nicht gar zu allen Schriftstellerkollegen seiner Zeit stets in der Nähe des Machtzentrums gestanden, das sich 1889 mit der Verkündung der sog. Meiji-Verfassung ein festes Fundament geschaffen hatte. Diese Nähe war Voraussetzung und Folge seiner steilen Karriere im öffentlichen Leben. Diese Nähe aber zwang ihn zugleich zu Kompromissen, die ganz offensichtlich für ihn persönlich dunkle Schatten auf den Glanz der eigenen Karriere warfen.

1862, also 6 Jahre vor den 1868 einsetzenden großen gesellschaftlichen Umwälzungsprozessen, mit denen Japan in historisch kürzester Frist das Mittelalter hinter sich ließ und in das moderne Zeitalter seiner Entwicklung eintrat, geboren, war Mori Ôgai noch ganz im Sinne des Konfuzianismus erzogen worden. Und eine der zentralen Kategorien der konfuzianistischen Ideologie war das Prinzip der Loyalität gegenüber jenen, die auf den verschiedenen Ebenen des sozialen Gefüges die Macht verkörperten. Mori Ôgai beugte sich dieser Macht, jedoch nicht willenlos und nicht ohne persönliche Bitterkeit.

Sein im Januar 1890 erschienenes Erstlingswerk, die Novelle "Das Ballettmädchen" die hier in Berlin spielt, legt ein beredtes Zeugnis davon ab, ein beredtes Zeugnis von der geradezu verzweifelten Konfliktsituation, in der er sich befand. Es ist dies die Geschichte einer jungen heftigen, aber tragisch endenden Liebe: Der japanische Student Toyotaro Ota wird von seinen Vorgesetzten unter einen so starken psychischen Druck gesetzt, daß er am Ende seine Liebe zu dem Ballettmädchen Elis zugunsten der ihm zugedachten Karriere aufgibt. Das Mädchen verfällt dem Wahnsinn. Seelisch tief verwundet und wohl auch nicht frei von Schuldgefühlen kehrt Ota in seine Heimat zurück.

Daß hier Ôgais persönliche Problematik abgehandelt wird, steht außer Frage. Aber bei allem Persönlichen hatte diese Problematik auch etwas Allgemeingültiges für die damals heranwachsende Generation der neuen japanischen Intelligenz, die alles Europäische begierig in sich aufnahm und der Losung, die der große japanische Aufklärer Yukichi Fukuzawa ausgegeben hatte, nämlich "Abkopplung von Asien und Anschluß an Europa" folgte. Es ist, allgemein gesagt, der Konflikt, der sich für das sich erstmals in Japan konstituierende bürgerliche Ich unter den noch obwaltenden geistigen und sozialen Gegebenheiten im damaligen Japan auftrat. Es ist das Dilemma, in das die jungen, aber noch in der alten Ideologie erzogenen Intellektuellen zwangsläufig geraten mußten.

Die Novelle "Das Ballettmädchen" fand seinerseit ein großes Echo, eben weil sie weit über das Private hinaus eine allgemeine Problematik aufgriff. Und für viele Japaner verbindet sich wohl auch heute noch mit dem Namen Ôgai zuerst und vor allem die Novelle "Das Ballettmädchen". Für einen hiesigen Leser indessen, dem der historische Hintergrund nicht geläufig ist, dürfte kaum verständlich werden, warum dieses Werk eine so große und so lang anhaltende Resonanz fand, bekäme er es in einer noch so guten Übersetzung in die Hand. Literarästhetisch gesehen, ist diese Novelle nicht mehr als ein Versuch Ôgais, für sich selbst umzusetzen, was er aus einer umfangreichen und eifrigen Lektüre europäischer Dichtung gelernt hatte, aber immerhin ein Versuch, der auf die damalige japanische Literatursituation geradezu revolutionär wirkte, nicht zuletzt durch den neuen Prosastil, den Ôgai damit einführtte. Daß er inhaltlich und vom Stimmungsgehalt her mit dieser Novelle bisweilen in die bedenkliche Nähe jener Rührseligkeit gerät, die für eine bestimmte Art von Unterhaltungsliteratur zu Ôgais Zeiten in deutschen Landen chrakterisch war, das konnte der japanische Leser jener Zeit nicht wissen und brauchte ihn auch nicht zu stören.

Ôgai opfert also seine Liebe, er beugt sich der Macht, und nur einmal in seinem weiteren literarischen Schaffen äußert er unverhohlene Kritik an dem Machtzentrum, und zwar im November 1910 in der allegorischen Kurzgeschichte "Chimmoku no tô" ( Turm des Schweigens ), als nämlich über zwanzig der führenden Sozialisten Japans unter haltlosen Beschuldigungen verhaftet wurden. Ôgais Kritik bewirkte zwar nichts, denn im Januar 1911 wurden elf der Angeklagten, an der Spitze Kôtoku Shûsui, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Aber bemerkenswert bleiben die menschliche Ehrlichkeit und der Mut des damals ranghöchsten Militärarztes der japanischen Armee, in aller Öffentlichkeit und mit dem Gewicht seines Namens gegen Machtmißbrauch aufzutreten.

Noch einmal in seinem Leben wendet er sich dann gegen das Machtzentrum, in dessen Nähe er stets gestanden hatte, und zwar nun mit einer Entschiedenheit wie nie zuvor. Am 6. Juli 1922, drei Tage vor seinem Tode, diktierte er sein Testament. Sinngemäß heißt es darin, daß er nach seinem Ableben jede formelle Behandlung und Ehrung seitens des Hofministeriums, mit dem er in enger Verbindung gestanden habe, ablehne, und daß er als bloßer Mori Rintaro sterben wolle. Wörtlich heißt es dann. "In den Grabstein darf nicht ein einziges Schriftzeichen mehr gehauen werden als. Grab des Mori Rintaro !"

Hier wird, so empfinde ich es zumindest, Größe zu menschlicher Größe. Und wenn wir Mori Ôgai nicht ein in Stein gehauenes Denkmal setzen, sondern ihm zu Ehren am 12. Oktober 1984 ein Gedenkzimmer einweihen dürfen, dann handeln wir, so glaube ich, auch ganz im Sinne seiner letzten Worte, zumal mit dieser Gedenkstätte ja nicht ein Museum entsteht, das dann und wann von einem Gast aufgesucht wird, sondern ein Gedenkzimmer, das bald Bestandteil einer Einrichtung sein wird, in dem diejenigen, die sich mit dem Heimatland Ôgais in Lehre und Forschung beschäftigen, ihre neue Heimstatt finden.

Magnifizenz, gestatten Sie mir, auch Ihnen in diesem Zusammenhang ein Wort des Dankes zu sagen. Für mich ist es nicht selbstverständlich, daß der Rektor einer so großen Universität sich auch für einen so kleinen Bestandteil seines Hauses, der die Japanologie naturgemäß nun einmal ist, stets einsetzt.

Ich gestehe offen, mir wird bei dem Gedanken, in naher Zukunft gleichsam in unmittelbarer Nachbarschaft mit Mori Ôgai zu leben, ein wenig bange. Denn mit ihm leben, heißt auch, stets danach zu streben, den hohen Maßstäben, die er setzte, gerecht zu werden, heißt nicht nur, sein Erbe zu verwalten, sondern in fruchtbarer Weise fortzuführen. Und das wird nicht leicht sein.

Sein Gesamtwerk, das er der Nachwelt hinterlassen hat, umfaßt in der neuesten Ausgabe 38 Bände von über 23 000 Seiten. Darin enthalten sind auch jene 130 europäischen Literaturwerke, die er ins Japanische übertrug, darunter seine inzwischen klassisch gewordene Faust-Übersetzung, darunter auch Werke von Lessing, Kleist, Schnitzler, Hofmannsthal, Rilke, Dehmel und Klabund, darunter aber auch Werke von Ibsen, Strindberg, Andersen, E.A. Poe, Oscar Wilde, Flaubert und vieler anderer, die er über das Deutsche ins Japanische übertrug. Es gibt kaum einen japanischen Schriftsteller seiner Zeit, der nicht durch seine Übersetzungen in der einen oder anderen Weise von einem oder mehreren dieser europäischen Schriftsteller beeinflußt worden wäre.

Hypothetische Fragen an die Geschichte in der Art: Was wäre gewesen, wenn... ergeben keinen Sinn. Sie bleiben zwangsläufig im Bereich des Spielerischen. Doch selbst unter dieser Voraussetzung wäre zu fragen: Wie wohl hätte sich die neue Literatur Japans entwickelt ohne die große übersetzerische Leistung eines Mori Ôgai?

Ebenso vielgestaltig wie diese Leistung war auch sein eigenes literarisches Schaffen.

Der japanische Literaturhistoriker Shûichi Katô verweist nachderücklich darauf, daß kein anderer Schriftsteller der modernen japanischen Literatur eine so breite Palette von Themen behandelt habe wie Mori Ôgai. Diese Palette reicht von der Darstellung romantischer Liebe bis zu literarischen Berichten erster sexueller Erfahrungen, von der Darstellung des Widerstreits zwischen Braut und Schwiegermutter bis zu dem Thema des künstlerischen Schöpfertums, sie reicht von Gesellschaftskritik bis zur literarischen Aufarbeitung der Geschichte, bis zu philosophischen und autobiografischen Reminiszenzen.

Aufgrund seines vierjährigen Aufenthaltes in Deutschland und seiner hervorragenden Deutschkenntnisse, die er bereits mitbrachte, lebte Ôgai intensiver als jeder andere seiner Zeitgenossen mit der deutschen und europäischen Literatur, mit der deutschen und europäischen Kultur und zudem war er wie kaum ein anderer Schriftsteller seiner Zeit den chinesischen und japanischen Literatur- und Kulturtraditionen eng verbunden. Er versuchte, beides miteinander zu verschmelzen, auf beiden Beinen zu stehen, die Vermittlerrolle in sich selbst zu verkörpern. Und hierin liegt denn vom Prinzip her auch wohl die eigentliche Herausforderung durch Mori Ôgai an uns.

Gewiß, er fordert uns auch als Schriftsteller, und schon diese Forderung ist nicht gering, zumal es kaum zu verstehen ist, daß ausgerechnet ein Mann wie Mori Ôgai, der so viel zur Verbreitung der deutschen Literatur in Japan beigetragen hat, als Schriftsteller gerade dort, wo Deutsch als Muttersprache gesprochen wird, nach wie vor so gut wie unbekannt ist, obwohl er zu den wichtigsten Autoren des modernen Japan gezählt wird und zweifellos doch auch weltliterarischen Rang hat. Dennoch, wenn kürzlich eine japanische Zeitung schrieb, hier an der Humboldt-Universität wird mit der Einweihung eines Gedenkzimmers für Mori Ôgai ein Zentrum der Mori-Ôgai-Forschung entstehen, dann würde ich sagen: Nein. Sicher, die Erforschung und Erschließung des reichen literarischen Erbes, das uns Mori Ôgai übertrug, muß und soll eine unserer Aufgaben sein. Aber wir wollen darüberhinaus mehr, und vielleicht klingt es vermessen, wenn ich sage, wir wollen auch im Sinne Mori Ôgais wirken.

Die Würdigung Mori Ôgais als einen der Mitbegründer der modernen japanischen Literatur und zudem der modernen japanischen Literaturkritik, als Schöpfer eines neuen Prosastils, als Dichter, der viele andere junge Dichter förderte, als Gestalt, die gleichsam die ganze Problematik seiner Zeit verkörperte und in dem Sinne als eine Symbolfigur seines Zeitalters zu gelten hat - all das ist eine der vielfältigen Aufgaben.

Aber wenn ich sagte, wir wollen im Sinne Mori Ôgais wirken, dann heißt das auch und nicht zuletzt, daß wir unserer Mittlerrolle zwischen unseren beiden Völkern, die wir als Japanologen zu erfüllen haben, immer mehr und besser gerecht werden. Wir wollen Mittler sein, um das gegenseitige Verstehen weiter zu vertiefen.

Ich sagte, es wird nicht leicht sein, mit Mori Ôgai zu leben, das Gefühl zu haben, als schaue er uns bei unserer tagtäglichen Arbeit gleichsam ständig über die Schulter. Wir wollen uns dieser Herausforderung stellen. Ich hoffe, daß wir uns alle, vor allem aber jene jungen Japanologen, die gegenwärtig an unserer Alma mater heranwachsen, dieser Herausforderung als gewachsen und würdig erweisen.