Selbstreflexiven Kurzessay über eigenes Medienhandeln und Medienberichterstattung über die Anschläge in Paris
Meine Mitbewohnerin rief mich am Abend des 13.11.2015 an, sie hatte das Spiel von Deutschland gegen Frankreich live gesehen. Im Sommer hatte Sie bei den European Maccabi Games in Berlin, einer jüdischen Veranstaltung, gearbeitet und war für terroristische Anschläge sensibilisiert. Ich war bei der Arbeit und habe dadurch nicht auf mein Handy geschaut. Als ich nach dem Anruf auf mein Handy schaute, hatte ich mehrere verpasste Anrufe. Sie hat mir erzählt, was passiert ist, danach fing ich an zu recherchieren.
Am 14.11.2015 verfolgte ich intensiv die Nachrichten und Liveticker. Auch war ich auf mehreren Plattformen wie Twitter, Tumblr und Facebook aktiv, um auf dem Laufenden gehalten zu werden. In der Woche danach ließ meine intensive Recherche um Paris deutlich nach. Dabei muss man anmerken, dass ich sehr aktiv im Netz bin und politische Bewegungen wie zum Beispiel „Black lives Matter“ in der USA mit großem Interesse folge.
Mein Alltag ist von Medien geprägt. Wenn ich aufstehe und in die Küche komme, schalte ich das Radio an und höre Fritz. Ich fahre mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Uni, auf dem Weg habe ich also die Chance, mein Facebook zu checken. Facebook nutze ich viel, um aktuelle Posts von politischen Gruppierungen wie „Jugendliche ohne Grenzen“, „Kein Bock auf Nazis“ oder „Pro Asyl“ zu erhalten. Ich folge auch mehreren Zeitungen auf Facebook und kriege so schnell die aktuellen Schlagzeilen mit. Unabhängig davon gibt es in der Berliner U-Bahn das Berliner Fenster, dort werden unter anderem Nachrichten anzeigt. Wenn ich abends wieder zu Hause bin, setze ich mich an den Computer und informiere mich näher über die Schlagzeilen, die mir aufgefallen sind. Obwohl sich mein Medienverhalten durch die Anschläge in Paris stark veränderte und der Medienkonsum anstieg, relativierte es sich nach einigen Tagen schnell wieder auf den normalen Pegel.
Dadurch dass die deutschen Medien sehr eurozentrisch berichteten, habe ich versucht, mehr Informationen über Beirut und Bagdad zu bekommen. Im Gegensatz zu Paris wurde Beirut und Bagdad nur minimale Aufmerksamkeit geschenkt. Durch Twitter habe ich erst am 14.11.2015 von den dortigen Anschlägen erfahren. Bewusst habe ich Artikel von Al-Jazeera gelesen, um mir ein breiter gefächertes Bild zu machen.
Die Medienberichterstattung über Paris erinnert mich fast schon an die Medienberichterstattung über ein großes Event. Dass dieses Event leider kein Fußballspiel oder eine königliche Hochzeit ist, muss man betrauern. Aber die Strategien der Medien wirken ähnlich. Es ist eine alltagsuntypische Situation entstanden, die Medien fokussierten sich fast ausschließlich auf dieses Event. Es fanden Spezialsendungen statt, Spezialisten redeten darüber und Betroffene wurden interviewt. Die Medien und die ganze Welt schauten auf Paris.
Das Pariser Attentat ließ die westliche Bevölkerung zusammenrücken, auf der ganzen Welt leuchten die Wahrzeichen in den Farben der französischen Flagge, in den Fußballstadien wurde die französische Nationalhymne gesungen, tausende Blumen wurden niedergelegt und Kerzen angezündet. Die eigene Identität wird dadurch bestärkt, dass es ein offensichtliches „Anderes“ gibt. In diesem Fall sind die Terroristen das „Andere“. Diese Distanzierung zum „Anderen“ wird genutzt, um das eigene Moral und die eigenen Werte zu unterstützen. Nach dem Attentat habe ich große Schlagzeilen gelesen, die damit zusammenhingen, dass Frankreich jetzt zurück schlägt. Das Attentat auf Frankreich legitimierte die Attacke auf die IS und die Bombardierung mehrerer Orte, die mit dem IS* verbunden sind. Was in dem Artikel nicht erwähnt wurde und in den Medien auch eher verschwiegen wurde, ist, dass Frankreich den IS schon seit 10 Monaten bombardiert. Auch vor dem Attentat hatten der IS und Frankreich kriegerische Auseinandersetzungen. Die Berichterstattung setzt den Fokus fast ausschließlich auf die Gewalt des IS* gegen Frankreich. Ich persönlich würde es interessant finden zu erfahren, wie viele Zivilisten durch die Bombardierung von Frankreich in Syrien umgekommen sind.
Die Attacke in Paris wird instrumentalisiert und verwendet, um die eigene politische Agenda rüber zu bringen. Am selben Abend haben der Journalist Matthias Matussek und einige andere in der Öffentlichkeit stehende Menschen die Attacke in Paris als Argument gegen Flüchtlinge verwendet. Doch positiv überrascht war ich von vielen berührenden bis aufklärenden Artikeln in der Berichterstattung.
Ein Begriff, den ich in den Medien immer wieder gesehen habe und welcher mich jedes Mal irritierte, war „Distanzierung“. Die muslimische Bevölkerung sollte sich von dem Attentat distanzieren. Aber wieso müssen sich 1,3 Muslimen für die Tat einer minimalen Menge rechtfertigen? Ich musste mich als Deutsche nicht von der NSU distanzieren und als Christin muss ich mich auch nicht vom Ku-Klux-Klan distanzieren. In den Medien und in der Politik wird vom IS, Islamischen Staat,* geredet, aber wenn man sich auch nur für eine kurze Zeit intensiver mit dem Islam beschäftigt, merkt man, wie weit der IS vom Islam entfernt ist. Trotzdem kommt es in den Medien immer wieder so rüber, als ob jeder Muslim gleich Islamist wäre. Mit hetzerischen Schlagzeilen werden Vorurteile, die schon vorhanden sind, bedient und weiter verbreitet.
Es war berührend und beruhigend zu sehen, wie groß die Anteilnahme in der Bevölkerung und in den Medien am Attentat in Paris war. Auch wenn einige Leute versucht haben, dieses Attentat für sich zu instrumentalisieren, haben es die großen Medien geschafft, verhältnismäßig neutral zu bleiben und eine totale Panik zu vermeiden. Wie oben schon erwähnt, war ich schockiert über die überaus eurozentrische Berichterstattung, vor allem in Anbetracht der Geiselnahme in Mali, die eine Woche nach dem Attentat in Paris stattfand, und immer noch davon überschattet wird. Es war schön zu sehen, wie die Welt über Paris zusammengekommen ist, aber ich hätte mir einen erweiterten Horizont bei der Berichterstattung gewünscht.
*Im Arabischem Raum ist es üblich, den IS "daesch" zu nennen.
Zur Autorin:
Charlotte Wittke studiert an der Humboldt-Universität zu Berlin Regionalstudien Asien/ Afrika. An ihrem Studium schätzt sie, dass alte Denkweisen und Gesellschaftsnormen hinterfragt werden und sie so einen neuen Blick auf die Welt gewinnt.