Humboldt-Universität zu Berlin - Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftliche Fakultät - Institut für Asien- und Afrikawissenschaften

Straßendeckel in Japan


Kunst auf dem Weg

Fotoausstellung von Annett Stroetmann 

19. April - 5. Oktober 2007

 

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"Die hätt' ich gern verkleinert als Brosche!" – spontane Reaktion weiblicher Betrachter beim Anblick der Fotos von Straßendeckeln in Tokyo und Kyoto von Annett Stroetmann. Begeisterte Ausrufe wie diese sind bei einem Gang durch die Berliner Straßen wohl kaum zu erwarten, falls man im Alltag die heimischen Exemplare überhaupt beachtet bzw. annähernd Auskunft zu geben vermag über die Formen, die hierzulande vorherrschen.

Wenn man, wie die gelernte Industrie- Designerin und Goldschmiedemeisterin das Glück hat, zur Kirschblütenzeit in Japan zu weilen, würde in dieser Jahreszeit wohl kaum jemand den Blick vorwiegend auf den Boden richten. Es sei denn, man besitzt wie sie ein ausgesprochenes Faible für Industriekultur, ganz gleich ob im Design oder der Architektur, für Strukturen in der Gestaltung von Alltagsgegenständen gepaart mit einer Leidenschaft für's fotografische Festhalten. Hinzu kommt eine etwa siebenjährige Fokussierung des Themas Straßendeckel - seit einem Aufenthalt in Mittelitalien -, wo ihr zuerst die historischen, liebevoll geschützten Exemplare auffielen, sie zu fotografieren, zu dokumentieren begann. Die Auszeichnung, die sie wenig später in Japan für ihren Entwurf von Essstäbchen-Auflagen erhielt, hat ihre Vorgeschichte u.a. in der langjährigen Freundschaft mit japanischen Kommilitonen und der Orientierung an den dortigen Gestaltungs-Standards: Konsequent sein, nicht unbedingt Trends folgen, das Alte schätzen mit seiner hohen Ordnung und immer den Zusammenhang zwischen Dingen und Menschen sehen. "Nach dem anfänglichen 'Erschlagen sein' von den absolut fremden Eindrücken, dem fasziniert Sein von Japan, den liebevollen Details" stolperte sie förmlich über die Straßendeckel, die sie modern und uniform erwartet hatte, war überrascht von der Vielfalt, der Kreativität der Ausführung und vor allem der sorgsamen Einbettung in das jeweilige Umfeld.

Weshalb einige ihrer Fundstücke jetzt in der Mori-Ôgai-Gedenkstätte zu sehen sind, ist ein weites Feld. Es hat nicht nur damit zu tun, dass Annett Stroetmann "zufällig" in Tokyo im Suigetsu-Hotel wohnte, in dessen Innenhof Mori Ogai die Berliner Novelle "Das Ballettmädchen" verfasste, von wo aus sie im Ueno-Park auf die ersten erstaunlichen Straßendeckel stieß. Der Hygieniker Mori Ogai hatte sich 1888 nach der Rückkehr in sein Heimatland, analog zu Rudolf Virchow in Berlin, für die Beseitigung der hygienischen Missstände in der wachsenden Großstadt durch den Bau einer Kanalisation eingesetzt, war deren geistiger Wegbereiter. 1887, als er noch bei Robert Koch die pathogenen Bakterien im Spreewasser untersuchte und Berliner Kläranlagen besichtigte, befand sich der Erbauer und Architekt der Berliner Kanalisation James Hobrecht gerade in Japan auf einer selbst verordneten "Dienstreise" und wirkte dort an Entwürfen sowohl für das Regierungsviertel als auch an Plänen für eine Kanalisation in Tokio mit. Es gibt eine Geschichte der unterirdischen deutsch-japanischen Beziehungen, an die diese Ausstellung anknüpft, indem sie die Aufmerksamkeit auf einen oft vernachlässigten Bereich lenkt, in dem Japan Maßstäbe setzt.

"Straßendeckel" (als Oberbegriff für Gully- oder Kanaldeckel, Elektro-, Telefonleitungs- u.a. Zugänge) als "Rôjô no geijutsu/Kunst auf dem Weg" zu betrachten, dafür gibt es in unserer Hauptstadt leise Anfänge. In Japan hingegen hat die Ästhetik des Designs der Straßendeckel als Teil der Alltagskultur eine lange Tradition.

Im Jahre 1881 hatte Mita Zentarô den Entwurf einer Kanalisation für das "Ausländer-Viertel" in Yokohama vorgelegt. Die ebenfalls eingezeichneten Gullydeckel nannte er damals "jinkô" (mit den Zeichen für Mensch und Loch), analog zum Englischen "manhole", das Loch in der Straße, durch das genau ein Mensch nach unten gelangen kann. Allerdings waren die Gullydeckel damals noch viereckige Gitter, wie sie ab und zu heute noch zu finden sind.

Das Design der frühen Gullydeckel in Japan geht zurück auf die Familienwappen. Jedes Fürstentum, jede Familie hatte ein eigenes Wappen (mon), das auf die Kimonos gedruckt bzw. Gegenständen eingraviert wurde. Nach der Abschaffung der Fürstentümer im Zuge der Meiji-Restauration nach 1868 wurden die Wappen der Fürstentümer häufig als Stadtwappen übernommen. Es lag nahe, diese als Modell für die Gestaltung der Gullydeckel zu verwenden. So ergab sich von Anfang an eine breite Vielfalt des Designs.

Um 1955 fingen Städte wie Osaka und Kobe an, Straßendeckel mit eigenem Stadtdesign zu produzieren. Gleichzeitig verkauften verschiedene Firmen neue abstrakte Motive landesweit. Ab etwa 1985 setzte sich das Japanische Bauministerium verstärkt für individuelle Straßendeckel-Entwürfe für die einzelnen Ortschaften ein und appellierte an die Bürger, den Straßendeckeln mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Das Design muss zum Charakter der Stadt passen, darf nicht kompliziert sein. Wichtig ist eine gelungene Mischung aus Design-Unikat und Praktikabilität.

Heute gelten folgende Kriterien/Richtlinien:
1. Die Entwürfe sollen weder langweilig sein noch kurzfristigen Modegags unterworfen, also langlebig und ansprechend sein.
2. Bevorzugt werden klare Entwürfe, die übersichtlich sind und von allen vier Seiten her erkannt werden können.
3. Das Design sollte von der Tiefe des Musters hervor Abnutzung geschützt sein.
4. Auch wenn die Straßendeckel aus Gusseisen gefertigt werden und schwer sein müssen, sollen sie nicht schwer und kalt wirken. Eine gewisse Leichtigkeit und Wärme kann durch Farbabstufungen erreicht werden.
5. Der Entwurf soll originell sein und regionale Besonderheiten widerspiegeln durch die für den Ort symbolischen Pflanzen, Tiere, Sehenswürdigkeiten, Wappen oder Firmensignets.
6. Das Muster muss vor allem rutschfest sein.

Beteiligen können sich an den Ausschreibungen ganz normale Bürger, Angestellte der Rathäuser, Produktionsfirmen sowie Designer. Das Endergebnis mit allen Nachbesserungen ist oft eine Mischung verschiedener Beteiligter. Zunehmend fühlen sich namhafte Künstler herausgefordert, sich mit Entwürfen im Stadtbild zu verewigen.

Am häufigsten finden sich auch in Japan Straßendeckel aus Gusseisen. Keramikelemente sind auf dem Vormarsch. Durch die Verwendung farbiger Keramik sind die Motive nicht nur optisch besser erkennbar und farbenfroher, sie eröffnen gleichzeitig eine neue Dimension für kreatives Design.

Inzwischen hat der Straßendeckel den Status eines praktischen Stadt-Kunstwerkes erlangt und regt Spezialisten wie interessierte Laien zu immer neuen Entwürfen an. Er ist nicht länger der Verschluss eines Abstiegsloches, sondern ein künstlerisches Straßen-Emblem mit Lokalkolorit, ein Traditionsträger an sich.

Amazon Japan verzeichnet allein 13 lieferbare Bücher zum Thema "Manhole" bzw. japanisiert "Manhoru", wie Straßendeckel heute nach englischem Vorbild genannt werden. Drei der lieferbaren Titel sind Kinderbücher, um auch in der jüngsten Generation Aufmerksamkeit für diese Art der Alltagsästhetik zu wecken. 1986 wurde auf Initiative der Japanischen Kanalisations-Gesellschaft eine "Kommission für das Design von Kanaldeckeln" ins Leben gerufen, die von 100 Kanaldeckeln die 20 schönsten auswählte und veröffentlichte. Im Februar des folgenden Jahres erschien das Buch "Der Ausdruck der Straßendeckel" mit einer Sammlung von 100 Fotos. 1989 im Juli gefolgt von "Wappen auf dem Weg – das Design von 200 Straßendeckeln" und im Jahre 1993 "Ground Manhole Design 1992" mit 250 Fotos. 1997 veröffentlichte der Verlag der Wasserwirtschafts-Zeitung die "Fotosammlung Japanische Straßendeckel" mit 1546 Fotografien von Straßendeckeln aus ganz Japan, die einem Aufruf zufolge an das Bauministerium eingesandt worden waren. Allein an der wachsenden Zahl der Veröffentlichungen zu diesem Thema lässt sich die Relevanz dieses Bereiches der Alltagskultur in Japan ablesen.

Im Jahre 1991 wurde die "Japanische Bodendeckel-Produktionsgesellschaft" als Produzenten-Vereinigung ins Leben gerufen. Ihre Aufgabe es ist, u.a. mit Werbe-Wortschöpfungen wie "Sichtbare Kanalisation" oder "Straßenbrücke" das Image der Straßendeckel weiter zu heben, die in Japan nicht nur ästhetisch und schön sind, sondern gleichzeitig Identität stiftend. Auf vielen größeren Privatgrundstücken ist es bereits usus, den Boden mit eigens für die Einrichtung entworfenen Straßendeckeln zu schmücken. So haben verschiedene Themaparks, wie Disney-Land Tokyo, Kanadian World auf Hokkaido, ja sogar verschiedene Literatur- und andere Gedenkstätten auf ihren Grundstücken eigene Kanaldeckel mit symbolischen Motiven. Einschließlich der Bodenabdeckung werden besondere Orte als harmonisches Ganzes geplant. Auf der Halbinsel Amagiyugashima südlich von Tokyo befindet sich der Schauplatz des Romans "Die Tänzerin von Izu" des japanischen Nobelpreisträgers Kawabata Yasunari. Dort, am unmittelbaren Ort der Handlung findet man auch einen Straßendeckel mit typischen Motiven des Romans. Verstärkt erobert die Popkultur das Design. "Ampaman" ist in Japan so etwas wie bei uns "Bernd, das Brot", nur dass es in Japan mit Bohnenmus gefüllt ist. Ampaman gibt es als Trickfilm, in der Produktwerbung und im Geburtstort des Zeichners nun auch als Straßendeckel. Das Wahrzeichen der Osaka-Expo von 1970 ist der von Tarô Okamoto entworfene Sonnenturm. Selbstverständlich findet dieser sich als Motiv auf den Straßendeckeln im dortigen Gelände wieder.

Selbst einen "Freundeskreis Straßendeckel" findet man im japanischen Internet. Diese virtuelle Gemeinschaft spürt im ganzen Land besondere Exemplare fotografisch auf und versieht sie mit exakten Lage- und technischen Beschreibungen. Insofern lässt sich vermuten, dass in Japan Straßendeckel nicht nur in die Zuständigkeit von Designern und Verwaltungen fallen, die Achtsamkeit für die "Schönheit auf dem Weg" hat sich bereits zu einer virtuellen Bürgerbewegung gemausert.

Die fotografischen Fundstücke, die Annett Stroetmann für uns aus Japan mitgebracht hat, sind ästhetischer Genuss und Anregung zugleich, über eine mögliche Verfeinerung der Alltagskultur in dieser Stadt weiter nachzudenken.