Humboldt-Universität zu Berlin - Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftliche Fakultät - Institut für Asien- und Afrikawissenschaften

Tsuwano

tsuwano

 

TSUWANO

Iwami no Kuni 石見国, “Felsenland”, im Südwesten der japanischen Hauptinsel, ist eine der acht alten Reichsprovinzen der “Region im Schatten der Berge” 山陰道 (San’in Dô). Seinen Norden begrenzt zum eurasischen Festland weisend das Meer. Seine Berge und Fluren sind MORI Rintarôs erste Heimat. Zieht man die Schriftzeichen des Landesnamens, und , zu einem zusammen, so entsteht das Wort “Tusch-Reibstein”  (suzuri), Symbol jener universellen Schriftbildung, die ihn seit jüngsten Lebensjahren begleitet.

Am Morgen der frühen Neuzeit, vier Jahrhunderte bevor Philosophie, Literatur und Kunst dieses Landstrichs außerhalb des Inselreichs bekannt werden, gelangt ein anderer Reichtum, Silber, auf die Märkte und an die Fürstenhöfe des Abendlandes. Im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert ist die Region hierfür die größte Produzentin des Reiches. Von den 1550er Jahren bis 1639, als Japan mit dem fünften und letzten Abschließungsedikt aus europäischer Sicht von der internationalen Bühne abtritt, kommt ein großer Anteil der Weltproduktion hierher, weshalb man in Europa von den “Silberinseln” spricht.

Im Westen Felsenlands findet sich ein abgeschiedenes Burg- und Landstädtchen, gelegen in einem tiefen Tal, Zentrum des gleichnamigen Fürstentums – Tsuwano 津和野. Seine Ursprünge liegen im ausgehenden dreizehnten Jahrhundert, in der Zeit kurz nach dem Ansturm der mongolischen Heere, welche die Herrschaft des Großkhans auf das Inselreich auszudehnen versuchten. Der Bau der Burg fällt in die Jahre 1295 bis 1325. Das Regiment des Fürstenhauses Yoshimi 吉見家 erstreckt sich über vierzehn Generationen. Danach verliert es sein Gebiet an das Haus Tokugawa 徳川家. Es ist eines der kleinen, wenig begüterten Besitztümer des Reiches, auch Stammsitz der Bergbau-Dynastie Hori 堀家, die im Westen und Süden des Landes, so im “Bambusgrastal” von Tsuwano, Kupfer abbaut. Am Ende der Epoche, zu Beginn der 1860er Jahre, blickt der Ort auf eine bald sechshundertjährige Geschichte.

Der Name Tsuwano wird heute gern mit Tsuwabuki, einer Chrysanthemenart, in Verbindung gebracht. In frühesten Zeiten hätten die hier siedelnden “fernen Vorfahren” sie als “glückverheißend” angesehen und den Ort nach ihr genannt. Die schlichte, immergrüne Pflanze symbolisiert vielen, was man als Tugenden der Region ansieht: Widerstandsfähigkeit, Ausdauer und Genügsamkeit.

Nach dem Zugang zum landesweiten Netz der Reichsbahn im Sommer 1922, insbesondere seit den 1960er Jahren wird der Tourismus Quelle eines bescheidenen Wohlstands. Die Bewohner nennen ihren Ort “kleines Kyoto der Region im Schatten der Berge” 山陰の小京都 und ziehen Vergleiche zu Lokalitäten der Kaiserstadt.

In seiner gegenwärtigen Gestalt geht das “kleine Kyoto” auf Fürst SAKAZAKI Naomori 坂崎直盛 zurück, der vor 1599 auch unter seinem christlichen Taufnamen Pauro パウロ bekannt war. Nach der Schlacht von Seki ga Hara (1600) erhält er Tsuwano zu Lehen, eines der rund zweihundertsechzig Fürstentümer des Reiches. Noch heute wird er für die Entwicklung des Systems der Wassergräben gelobt, deren Zierkarpfen zu den lokalen Besonderheiten gehören. Mit der Anpflanzung von Maulbeerbäumen ermöglicht er den Aufbau einer Papierindustrie, die wirtschaftliche Bedeutung gewinnt.

Im Zentrum des geistigen Lebens steht die 1786 gegründete fürstliche Akademie Yôrô Kan 養老館 (“Nährung der Alten”). Sie vor allem macht Tsuwano zu dem, was es seinen Menschen, Japan und der Welt im folgenden Jahrhundert sein wird. In den vierziger bis sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts sind neben dem Landesherrn bedeutende Zeitgenossen mit ihr verbunden. Sie spielen eine maßgebliche Rolle beim Versuch der kaiserlichen Regierung, eine moderne, Regionen und Stände übergreifende “Staatslehre” zu schaffen. Der Geist der Akademie ist bestimmt vom zentralen Wert konfuzianischer Erziehung, respektvoller “Kindesliebe” 孝 (), die Ahnen und Eltern und generell den Älteren geschuldet ist. Hier ging MORI Rintarô zur Schule, bevor er im Sommer 1872 Tsuwano verließ und in die “Östliche Hauptstadt” ging.

In Rintarôs Kinderjahren, seit 1868, gab es in Tsuwano ein Straf- und Erziehungslager für einheimische Christen. Zur Erinnerung an ihre sechsunddreißig Märtyrer, die am “Jungfrauenjoch” 乙女峠 (Otome Tôge) ihr Leben ließen, hat man nach dem Zweiten Weltkrieg eine Marienkapelle eingerichtet, wohin am jährlichen Verfassungstag (3. Mai) eine Prozession von der Katholischen Kirche im Zentrum des Städtchens führt – ein Symbol seiner Weltoffenheit.

Es heißt, dass MORI Rintarô niemals mehr nach Tsuwano zurückkehrte. Aber im Testament, das er wenige Tage vor seinem Tode diktierte, finden sich die Worte: “Als Mensch aus Felsenland, MORI Rintarô, will ich sterben.” 石見人森林太郞トシテ死セント欲ス Die Berge von Tsuwano bleiben seine Heimat.

Literatur: Klaus KRACHT, Katsumi TATENO-KRACHT: Ôgais “Noel”. Mittwinterliches aus dem Leben des Hauses Mori und des Burgstädtchens Tsuwano – jenseits der idyllischen Stille, Wiesbaden: Harrassowitz 2011.